Hintergrund: Dritte Erstcheckrunde in den Museen Sachsen-Anhalts
Interview mit der Historikerin Corrie Leitz
Frau Leitz, Sie arbeiten seit Dezember 2019 als Wissenschaftlerin in der dritten Runde der sachsen-anhaltischen Erstchecks. Was für Verdachtsfälle kommen Ihnen denn unter?
Das sind zum einen vor allem Objekte, bei denen schon allein aufgrund ihres Kontextes ein möglicher NS-verfolgungsbedingter Entzug nicht ausgeschlossen werden kann. Bei den Judaica muss es nicht immer ein ritueller Gegenstand, sondern es kann auch ein Gemälde oder Alltagsgegenstand sein, welcher möglicherweise ursprünglich aus dem Haushalt einer jüdischen Familie stammt.
Zum anderen waren beispielsweise an der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau schon vorab durch eigene Recherchen der dortigen Mitarbeiter eine Reihe von Gemälden bekannt, die aus oder über die Vermittlung von Kunsthandlungen in die Sammlung gelangten, welche nachweislich in den NS-Kunstraub involviert waren. Aber auch eine erst nach 1945 über den Kunsthandel erworbene Grafik könnte möglicherweise Raubgut aus z. B. von der Wehrmacht besetzten Gebieten sein. Wichtig jedoch ist, dass in diesen Fällen genauere Recherchen erfolgen müssen, bevor eine abschließende Bewertung vorgenommen werden kann.
Daneben recherchieren wir auch zur Herkunft von Objekten anderer Verfolgtengruppen wie z. B. verbotenen Parteien oder Vereinigungen. Auch stoße ich auf Objekte, bei denen die Erwerbungsumstände auf einen Vermögensentzug in der DDR hinweisen. Und nicht zuletzt tauchen zuweilen auch Objekte auf, die unter Umständen aus einem kolonialen Kontext stammen können. Im Vordergrund meiner Recherche steht aber der NS-verfolgungsbedingte Entzug.
Bei der Arbeit als Provenienzforscherin spielen verschiedenste Quellen eine Rolle – von Literatur, Archivalien und Zeitungen im Museums- und Stadtarchiv, über die Museumsobjekte selbst bis hin zu Zeitzeugenbefragungen gibt es zahlreiche Ansatzmöglichkeiten zur Forschung. Wie gehen Sie bei Ihrer Arbeit vor?
Meist wird beim Erstcheck eine gute Woche vor Ort im Museum recherchiert. Natürlich sind bereits im Vorfeld Vorbereitungen nötig, so informiere ich mich schon vorab möglichst umfassend über die Museumsgeschichte sowie über die Geschichte des jeweiligen Ortes und der Region, insbesondere in der NS-Zeit.
Vor Ort steht dann zunächst die Erfassung und zumindest summarisch, teils auch detaillierte Sichtung der primären Medien der Objektdokumentation – nämlich der Eingangs- und Inventarbücher sowie der Karteien im Vordergrund. In begründeten Fällen prüfe ich auch – soweit vorhanden – die Erwerbungsunterlagen, um genaueres über den letzten Besitzer der Objekte und die Geschichte der Objekte in Erfahrung zu bringen. Oftmals ist dies aber gar nicht möglich, weil die Objekte in der Dokumentation mit dem bloßen Vermerk „Altbestand“ versehen sind oder überhaupt keine Angaben zur Herkunft und den Erwerbsumständen gemacht wurden.
In solchen Fällen bietet sich zumindest für einen Teil der Objekte eine sogenannte Autopsie – also die persönliche Inaugenscheinnahme – an, bei welcher die Gegenstände genau untersucht werden. Dabei können z. B. auf der Rückseite von Gemälden oder auch in Büchern o. a. Druckschriften Etiketten, Stempel oder handschriftliche Vermerke gefunden werden, welche auf frühere Besitzer hinweisen.
In manchen Sammlungsgruppen finden auch unabhängig von der Sichtung der Inventare und Karteien Autopsien statt, weil die Dokumentation von den Museumsmitarbeitern sehr unterschiedlich gehandhabt wurde und deshalb auch nicht immer geeignet ist, „verdächtige“ Objekte aufzuspüren. Das ist z. B. bei Gegenständen aus Edel- oder Buntmetall der Fall, unter denen sich zuweilen Objekte mit hebräischen Schriftzeichen oder aus rituellem Kontext finden. Oder Objekte, die von den Museumsmitarbeitern – teils schon vor Jahrzehnten – bei der Inventarisierung nicht erkannt wurden. Keiner kann schließlich alles wissen und kennen, mich eingeschlossen. Heute gibt es nicht zuletzt durch das Internet ganz andere Recherchemöglichkeiten. Neulich habe ich beispielsweise nach „chinesischen Pfanneneisen“ recherchiert – so etwas kannte ich vorher auch nicht. Dabei handelt es sich um eine sehr alte Art von Bügeleisen.
Die bei der Autopsie von Gemälden oder Büchern gefundenen Namen der Vorbesitzer werden dann mit Namenslisten von NS-Verfolgten abgeglichen, die ich oft selbst im Vorfeld zusammengestellt habe. Es ist schon erstaunlich, dass es gar nicht so wenige Orte gibt, in denen kaum zur Museumsgeschichte in der NS-Zeit und zu weiteren vom Regime verfolgten Personen geforscht wurde. Außerdem werden die eventuell belasteten Objekte in der Lost-Art-Datenbank auf das Vorliegen einer entsprechenden Suchmeldung hin überprüft. Dies sind nur zwei der zahlreichen Aufgaben, die bei der Nachbereitung des Vor-Ort-Checks anfallen.
Nicht selten wird Provenienzforschung mit zeitaufwändig und mit hohem Forschungsaufwand beschrieben. Wie sind Ihre Erfahrungen?
In jedem Fall muss man sehr konzentriert arbeiten, um nichts zu übersehen. Eine einzige Quittung kann die abschließende Bewertung hinsichtlich eines für ein Objekt vorhandenen oder auszuschließenden Verdachts grundlegend ändern. Bei der anschließenden Aufbereitung im Büro prüfe ich v. a. noch einmal alle gesammelten Informationen ganz genau, um dann z. B. wirklich fundierte Empfehlungen für vertiefende Recherchen abgegeben zu können.
Sie haben nun schon an einigen Museen Erfahrungen sammeln können. Gibt es Bereiche, in denen Sie weiteren Forschungsbedarf sehen?
Es kann sehr aufschlussreich sein, zur Geschichte einzelner umfangreicher privater Sammlungen zu forschen, die bereits vor 1933 entstanden sind, über Jahrzehnte „gefüllt“ wurden und aus denen über die Erben auch in neuerer Zeit Objekte in Museen gelangt sind. Das schließt natürlich die jeweilige Sammlerpersönlichkeit ein. Oft ist heute nicht mehr bekannt, in welchem Verhältnis sie zum NS-Regime standen oder ob bei ggf. ablehnender Haltung nicht doch zuweilen der Sammlerehrgeiz dazu geführt hat, Objekte z. B. aus Vermögen zu erwerben, welches von den Nazis enteignet wurde.
Was an Ihrer Arbeit gefällt Ihnen persönlich am besten?
Es handelt sich tatsächlich um eine sehr komplexe Arbeit. Und ich habe ja längst nicht alle Arbeitsschritte benannt. Dabei geht es zuweilen tatsächlich recht mühsam voran. Insgesamt ist es aber eine sehr spannende Tätigkeit. Vor allem bei den Autopsien und wenn ich zur Klärung einer Objektgeschichte beitragen kann, über die im Museum vor meinem Erstcheck kaum etwas bekannt war.