6 Fragen - 6 Köpfe
Wie viel Rock’n‘Roll steckt in Sachsen-Anhalt?
Sachsen-Anhalt als wild, ungezügelt und rebellisch zu bezeichnen, wie es dem Rock’n’Roll nachgesagt wird, ist vermutlich zu weit hergeholt und doch sind es die Nuancen, die unserem Bundesland seinen Charakter verleihen: Mr. Rockabilly der Neuzeit Sebastian Raetzel gehört ebenso zu Sachsen-Anhalt wie der Titelgewinn bei den Weltmeisterschaften im Stepptanz mit Elvis-Tolle (Steps Dance Center, Magdeburg). Mein persönliches Highlight war das Konzert der Rock-Blues-Band „Elephant’s Foot“ anlässlich ihrer Auszeichnung zur „Besten Newcomerband Deutschlands“ im Festsaal des Palais am Fürstenwall. Plötzlich wurden die Krawatten gelockert und es gab lautstarke Standing Ovations für die Musik in der ehrwürdigen und bis zum letzten Platz gefüllten Halle. Ich wünsche mir für die Kunst- und Kulturszene, dass wir damit weitermachen. Ob Pop, ob Klassik, ob Kunst, ob Theater: Rock‘n‘Roll ist eine Fusion, ein Schmelztiegel vielfältigster Elemente – es ist pure Leidenschaft, und davon hat das Bundesland eine ganze Menge.
Julia Wartmann
Projektleiterin „local heroes“ Aktion Musik / local heroes e.V.
Wie setzt man in Sachsen-Anhalt Puppen in Szene?
Die Faszination der zeitgenössischen Puppenspielkunst beruht auf dem hohen Grad professioneller Ausbildung der Puppen- und Figurenspieler an den Staatlichen Hochschulen für darstellende Künste, die sie befähigt, ein lebloses ETWAS glaubhaft zu verlebendigen und zu beseelen. Dieser stets neu zu begründende Prozess setzt dabei permanente ästhetische Innovationskräfte frei, die den Zuschauer auf unerwartete theatrale Erlebnisreisen entführt. Mit großem Vergnügen verflüssigt das Puppen- und Figurentheater dabei die Grenzen zwischen Sparten und Kunstformen. Dank einer verlässlichen Unterstützung durch die Kommunen und das Land Sachsen-Anhalt wurden die Puppentheater in Magdeburg und Halle zu den innovativsten Ensemblepuppentheatern und Sachsen-Anhalt zu einem Leuchtturm der Puppentheaterszene. Das Puppentheater Magdeburg entwickelte sich zu einer komplexen kulturellen Institution mit Theaterbetrieb, breitem kultur-ästhetischen Bildungsangeboten und einem herausragenden internationalen Figuren Theater Festival. Das Haus wurde 2019 für seine Arbeit mit dem „Theaterpreis des Bundes“ ausgezeichnet.
Michael Kempchen
Intendant des Puppentheaters Magdeburg
Wieviel Barockmusik braucht ein Land?
Ob das ein Heinrich Schütz oder Johann Sebastian Bach ist, ein Georg Friedrich Händel, Georg Philipp Telemann, Samuel Scheidt, Friedrich Wilhelm Zachow, Johann Friedrich Fasch, Christian Förster, Johann Heinrich Rolle, David Pohle, Clemens Thieme und und und – sie alle eint eines: Als hochgerühmte barocke Meister lebten und wirkten sie auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt. Allein das macht das Land schon zu einem Musikland erster Güte. Fragt man sich, ob das für uns heute Relevanz besitzt, so reise man durch das Land und sperre die Ohren auf – es singt und klingt im ganzen Land, begeistert Einheimische wie Gäste, Laien wie Profis, und rühmt zugleich eine großartige musikalische Tradition, die über die Jahrhunderte nicht zuletzt auch eine faszinierende Rezeptionsgeschichte ist. 2022 feiern wir 100 Jahre Händel-Festspiele in Halle, zahlreiche Musikfeste an authentischen und auratischen Orten markieren alljährlich Höhepunkte im Kulturkalender, mit „Bachs Erben“ ist Deutschlands erstes und einziges Jugendorchester für Barockmusik hier beheimatet … Damit und mit Vielem mehr spannt sich ein klingender Bogen ins Heute – denn Moderne war auch musikalisch schon immer hier zu Hause.
Christina Siegfried
Intendantin des Heinrich Schütz Musikfestes und Geschäftsführerin der Mitteldeutschen Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V.
Wie viel Humor steckt in Sachsen-Anhalt?
Selbstredend lässt sich sagen, dass der Humor in einer Region vom Humor der Menschen abhängt – und Humor kann es nie genug geben (wissen wir doch, dass ein Leben mit Humor und Heiterkeit ein gesünderes ist). Es mag viele überraschen: Im 18. Jahrhundert wirkte in unserer Region eine Heiterkeits-Avantgarde! Dichter*innen wie Johann Wilhelm Ludwig Gleim oder Johanna Charlotte Unzer prägten um die Mitte des 18. Jahrhunderts eine Literatur und Kultur des Scherzes, die die Geselligkeit, das gemeinsame – zumindest – Lächeln und einen spielerischen Umgang miteinander populär machten. Dass dadurch der deutschen Literaturgeschichtsentwicklung ein tüchtiger Schub nach vorn gelang, ist oft vergessen worden. Zu Unrecht! Was auch oft vergessen wird: Dieser Humor ging mit der Idee der positiven Entwicklung einer tugendhaften, gerechteren Gesellschaft einher. Vielleicht sollte man sich von diesen Impulsen auch heute noch inspirieren lassen, denn, wie Gleim schrieb: „Flüchtig ist die Zeit.“
Dr. Ute Pott
Direktorin Gleimhaus Halberstadt
Wie modern ist Sachsen-Anhalt?
Sachsen-Anhalt ist ein modernes Land, weil hier Menschen lebten und leben, die offen für Unbekanntes, Unvertrautes oder unmöglich Scheinendes waren und sind und deswegen Neues wagten und wagen. So reicht die Tradition textilen Kunstschaffens in unserer Region zurück bis ins Mittelalter und wird seit mehr als einhundert Jahren an der Burg Giebichenstein Kunsthochschule Halle, einem Ort künstlerischer Innovation und Modernität, immer wieder zeitgenössisch fortgeführt.
Sachsen-Anhalt ist auch ein modernes Land, da der internationale kulturelle Austausch hier stets Neues hervorbrachte. So ist der einzigartige Westlettner des Naumburger Doms ein Ergebnis des Transfers französischer Hochgotik in unsere Region oder die klassizistische Architektur und Gartenkunst des Dessau-Wörlitzer Gartenreichs nicht denkbar ohne die weltoffene Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Impulsen aus England. Letzteres schlägt den Bogen zur Formensprache der Moderne, wie sie das Bauhaus in Dessau entwickelte.
Mit den dort wirkenden Künstlern ist auch die klassische Moderne verbunden. So baute das Landeskunstmuseum in der halleschen Moritzburg bis 1933 eine Sammlung zeitgenössischer Kunst auf, die deutschlandweit zu den führenden gehörte. Direktoren wie Max Sauerlandt und Alois Schardt schufen im Verbund mit Oberbürgermeister Richard Robert Rive etwas seinerzeit Einzigartiges – ebenso wie Oberbürgermeister Hermann Beims in Magdeburg gemeinsam mit Bruno Taut die „Bunte Stadt“ ermöglichte. Ohne Menschen wie diese, die modern dachten und handelten, wäre Sachsen-Anhalt heute kein Land der Moderne.
Diese Tradition wird von den heute Agierenden als Verpflichtung und Auftrag verstanden und im Kontext des 21. Jahrhunderts mit Leben gefüllt.
Thomas Bauer-Friedrich
Direktor des Kunstmuseums Moritzburg Halle (Saale), Kunstmuseum des Landes Sachsen-Anhalt
Wie viel (christliches) Seelenheil steckt in Sachsen-Anhalt?
Sachsen-Anhalt wird glücklicher! Zumindest allmählich. Denn lange Jahre war das Land im bundesdeutschen Glücksatlas auf dem letzten Platz, hat sich aber jetzt Jahr für Jahr hochgearbeitet: 2018 auf den vorletzten und 2019 auf Platz 17 unter den 19 Ländern. Die Abstände werden geringer, wir schließen an die allgemeine Lebenszufriedenheit auf.
Liegt es am christlichen Seelenheil, um mich der gestellten Frage zuzuwenden? Schwierig ist hier die Antwort, wenn nur noch ca. 17 Prozent der Bevölkerung religiös sind, egal ob evangelisch oder katholisch. Übrigens eine Zahl, die aus vielfältigen Säkularisierungen seit der Industrialisierung Ende des 19. Jahrhunderts resultiert. Zugleich ist das christliche Erbe omnipräsent: Der Naumburger Dom und die Lutherstätten in Eisleben und Wittenberg repräsentieren als UNESCO-Weltkulturerbe das Land kulturell und touristisch; das Reformationsjubiläum 2017 wurde weltweit gefeiert und damit auch das Ursprungsland der Reformation; es gibt rund 2.300 Kirchengebäude - die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland ist die „steinreichste“ Landeskirche in Deutschland - und dazu zahlreiche Kirchenbauvereine mit eindrucksvollen ehrenamtlichen Aktivitäten bei der Bewahrung von Ortsgeschichte.
Also doch, die sichtbare und prägende christliche Kultur ist Anlass für Stolz und Engagement, gute Voraussetzungen für Zufriedenheit. Und Seelenheil? Das kommt jedem zu, im Glauben der Christen als Geschenk Gottes, für alle anderen als Erfahrung von Frieden, Familie, Freundschaft, von Nähe und Geborgenheit. Wie viel Seelenheil steckt nun also in Sachsen-Anhalt? In 2,196 Millionen Menschen, also in allen von uns, als Chance, als Geschenk, als Aufgabe.
Dr. Stefan Rhein
Direktor der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt